Schicksale der Puppe Wunderhold.

Autorin:
Die Autorin Julie Gouraud (Pseud.: Louise d’Aulnay, 1810-1891), die sowohl für Kinder als auch für Erwachsene geschrieben hat, gehört zu den bekanntesten französischen Kinderbuchautorinnen des 19. Jahrhunderts.

Entstehung:
Die Mémoires d’une poupée (1838) wurden von Antonie Cosmar (später: Antonie Klein, 1806 - ca. 1870) sofort nach dem Erscheinen ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel "Schicksale der Puppe Wunderhold" veröffentlicht. Antonie Cosmar war selbst Schriftstellerin, Übersetzerin und Redakteurin in Berlin und Dresden. Damit gehört das Buch zur ersten Puppengeschichte im deutschsprachigen Raum.

Inhalt:
Die Schicksale der Puppe Wunderhold sind neben einer Rahmengeschichte in elf Kapitel gegliedert. In jedem Kapitel werden verschiedene Puppenmütter aus der Sicht des Puppenkindes Wunderhold vorgestellt. Während im ersten Kapitel Wunderhold im Laden ein tristes Dasein fristet und erst nach einigen Wochen von Ella (in früheren Ausgaben Henriette, in späteren Brigitte) und ihrer Mutter gekauft wird, so schildert sie anschließend aus der Ich-Perspektive ihre weiteren Erlebnisse. Ella ist eine fürsorgliche und gute Puppenmutter, die Wunderhold sehr verwöhnt, ihr neue Kleider näht und sie sogar in ihrem Unterricht mit dabei sitzen lässt. Als ihre Mutter Besuch von einer armen Frau bekommt, die dringend Geld benötigt, beschließen Mutter und Tochter die Puppe Wunderhold bei einer Lotterie als Hauptgewinn auszuschreiben. Wunderhold ist entsetzt, muss sich jedoch ihrem Schicksal beugen.

Sie kommt zu Adele (in späteren Ausgaben Ruth), einem bösen und unartigen Mädchen. Hier erleidet sie sehr viele Qualen, wird verletzt und schließlich im Kleiderschrank gelagert. Als Julie (in späteren Ausgaben Erna), Adeles Cousine, die Puppe sehen möchte, ist nicht nur Julie, sondern auch Adele über das ‚ungesunde’ Äußere der Puppe entsetzt. Adele schenkt Julie ihre Puppe und erneut kommt Wunderhold zu einer guten Puppenmutter, wird repariert und soll sogar verheiratet werden. Die Mädchen suchen sorgfältig einen Mann aus, doch während der Fahrt mit der Hochzeitskutsche fällt Wunderholds Ehemann von der Hochzeitskutsche und stirbt. Jetzt genießt Wunderhold ihr Leben als Witwe und unternimmt mit Julie eine Badereise. Sie wird jedoch von Elenor (in früheren Ausgaben Mathilde, in späteren Ausgaben Mabel) gestohlen: Elenor entspricht keiner guten Puppenmutter. Wunderhold folgt ihr in ein Mädchenpensionat, wo sie turbulente Zeiten erlebt und Elenor sich verändert.

Sie gibt Wunderhold Julie zurück. Doch Julie ist dem Puppenalter bereits entwachsen und sie verliert schließlich ihre Puppe als das Schiff, auf dem sie mit ihrer Mutter nach Amerika auswandert, havariert. Mutter und Tochter überleben. Julie findet schließlich die Erinnerungen der Puppe Wunderhold, die sie an ihre Freundin schickt. Sie möchte mit den Lebenserinnerungen der Puppe die Leserinnen erfreuen.

Alle Bilder aus: A. Cosmar: Schicksale der Puppe Wunderhold, hier: Auflage 1931

Bedeutung:
Adressiert sind die ‚Lebenserinnerungen’ der Puppe Wunderhold an Mädchen im Alter bis zu zehn Jahren, die aus den gehobenen Schichten stammen. Die jüngste der Protagonistinnen ist acht, die älteste vierzehn Jahre alt. Die älteren Mädchen verlieren das Interesse an der Puppe.

Der Text nimmt Anleihen bei den traditionellen Beispielgeschichten und den jungen Leserinnen werden die unterschiedlichen Puppenmütter und ihre Charaktereigenschaften vorgeführt. Die Puppe Wunderhold kommentiert die Verhaltensweisen der Mädchen. Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen den Mädchen und ihrer Puppe. Die Puppe bildet das Zentrum der Mädchenkindheit. Ella und andere ‚brave’ Puppenmütter erleben alles gemeinsam mit ihrer Puppe.

Damit erfüllt die Puppe unterschiedliche Funktionen: Sie ist Lernspielzeug und Erziehungsinstanz, aber auch geliebtes und ungeliebtes Spielzeug. Während Ella und Julie ihre Puppe lieben, ist es vor allem Adele, die Wunderhold als ungeliebtes Spielzeug wahrnimmt. Mit Wunderhold, so Adele, verschlimmert sich ihr Leben noch einmal. Wunderholds Vernachlässigung unterstreicht Adeles Fehlverhalten und wird für jeden sichtbar.

Die Auflagen des Buchs über die Puppe Wunderhold erscheinen mit Vorreden, in denen bestimmte Veränderungen im Text kommentiert werden:
Seit einem Vierteljahrhundert war aber die Welt nicht stehen geblieben, und während Wunderhold in langem Todesschlafe gelegen, waren Eisenbahnen und elektrische Telegraphen ins Leben getreten, aus den ersten kleinen Freundinnen der Puppe Wunderhold waren Mütter geworden, und diese wieder mit den steigenden Auflagen zu Großmüttern avanciert. Um den Anforderungen der Zeit zu genügen, mußte also ‚Wunderhold’ zuvor modernisiert, sowie dem gegenwärtigen Zeitgeschmack angepaßt werden. (Wunderhold, S. IV).

Puppen wie Wunderhold verkörpern die elegante Welt des 19. Jahrhunderts. Sie verfügen, je nach Puppenmutter, über entsprechende Garderobe, die im Kleiderschrank aufbewahrt wird. Bereits ihre Einführung signalisiert, wie kostbar die Puppe ist: „Hier ist die kostbarste Puppe des Ladens, kleines Fräulein. Sehen Sie nur: die schönen blauen, lebhaft blickenden Augen! Das lange, goldblonde Lockenhaar! Die Füßchen und Händchen – alles ist so zierlich und hübsch. Sieht sie nicht aus, als wenn sie lebte und nur noch zu sprechen brauchte?“ Mit diesen Worten stellt die Verkäuferin, Fräulein Berta, Ella die Puppe vor. Das Haar war zunächst schwarz, wurde aber in den späteren Ausgaben blond.

Tatsächlich wird im Text immer wieder kommentiert, dass solche Puppen wie die Puppe Wunderhold den wohlhabenderen Kreisen angehören. Als ein Mädchen aus den niedrigen Schichten mit Wunderhold spielen möchte, ist Wunderhold fast entsetzt und zugleich überrascht, wie sauber die Wohnung ist.
Das Verhältnis zwischen Puppenmutter und Puppe ist sehr eng. Beide tragen gleiche Kleidung und unternehmen alles gemeinsam. Ella beispielsweise möchte ohne ihre Puppe gar nicht tanzen. Solche Fürsorglichkeit kommentiert Wunderhold mit folgenden Worten: „Glücklicherweise hatte Ella mich aber zu lieb, um mich auch nur einen Augenblick zu verlassen, und als ein kleiner Herr sie zum Tanzen aufforderte, nahm sie es nur unter der Bedingung an, daß ich auch mittanzen durfte.“ (Wunderhold, S. 19)

Im Spiel mit der Puppe lernen die Mädchen Nähen, Kochen und auch Krankenpflege. Bereits im ersten Kapitel wird Ella von ihrer Mutter aufgefordert, selbstständig Wunderhold Kleidung zu nähen. Für Wunderhold lernt Ella es sehr gerne. Puppe Wunderhold beschreibt sich selber als eitel und sie steht gerne im Mittelpunkt der Gesellschaft. Wird sie nicht beachtet, so leidet sie darunter genauso wie unter den Beschädigungen, die sie im Laufe ihres Lebens erfährt. Somit werden zeitgenössische Probleme von Mädchenkindheiten thematisiert. Im Hochzeitsspiel werden auch Ängste der Zukunft auf die Puppe projiziert.

Rezeption:
Große Resonanz fand das Buch "Schicksale der Puppe Wunderhold" erst nach 1865; 1920 erschienen sie in der 21. Auflage, 1927 wurden sie mit den genannten Namen zum letzten Mal gedruckt; interessanterweise bekommt in der Ausgabe von 1931 die Figur der moralisch schlechten, „bösen“ Adele den „jüdischen“ Mädchennamen „Ruth“ und die gute Protagonistin Julie erhielt den sehr „deutschen“ Vornamen „Erna“. Insbesondere in den Vorworten werden die Veränderungen der Puppe Wunderhold dokumentiert und erläutert.

Die große Beliebtheit des „Wunderhold-Schicksals“ zeigt sich auch daran, dass eine weitere Veröffentlichung mit dem Titel Puppe Wunderhold und ihre Freudinnen von Emma Moser bearbeitet wurde und in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Auflagen unter den Namen Antonie Cosmar (auch A. Klein)/Emma Moser erschien und später (bis etwa 1985) nur noch unter dem Namen Emma Moser (Moser, o. J.). In dieser Version ist Wunderhold doch gerettet worden, hat bei einem anderen kleinen Mädchen überlebt und wird am Ende noch einmal mit den vorherigen Protagonistinnen zusammen geführt. Das wirkliche Ende der Puppe Wunderhold besteht darin, dass sie nicht etrinkt, sondern in einem Karton mit Feuerwerkskörpern zum „sternbesäten Nachthimmel“ (S. 207). fährt.